Viele Menschen verbinden Palliativmedizin oft mit Tod und Sterben – ein weit verbreitetes Vorurteil. Warum eine Palliativstation keine Sterbestation ist, erklärt Dr. Merwe Carstens, Chefärztin der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin der Sana Kliniken Lübeck. Sie leitet die dortige Palliativstation und ist zudem Leiterin der Fachgruppe Palliativmedizin und Mitglied im Zentralen Ethikboard der Sana Kliniken. Im Interview verrät die Medizinerin außerdem, was sie an ihrem Beruf so schätzt.
Interview mit Palliativmedizinerin Dr. Merwe Carstens
Warum Palliativmedizin mehr ist als Sterben
Wann kommen Patienten auf die Palliativstation?
Dr. Merwe Carstens: Um auf einer Palliativstation versorgt zu werden, bedarf es grundsätzlich einer chronischen Erkrankung, die irgendwann zum Tode führt. Die verbleibende Lebenszeit kann dabei sehr unterschiedlich sein. Wir betreuen auch palliativ Erkrankte mit einer Lebenserwartung von mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten. Zusätzlich zur chronischen Erkrankung braucht es schwierig zu beherrschende und belastende Symptome, die auf anderen Stationen oder ambulant nicht beherrschbar sind. Das können schwere Schmerzkrisen, Luftnot oder schwierige Wundsituationen bei Überforderung der pflegenden Angehörigen sein.
Auf einer Palliativstation arbeiten Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. Warum ist das so wichtig?
Dr. Merwe Carstens: Wenn ich als Ärztin einer Patientin oder einem Patienten eine schlechte Nachricht überbringen muss, ist es zum Beispiel oft hilfreich, wenn eine Psychologin bei dem Gespräch dabei ist oder danach für Gespräche mit den Betroffenen zur Verfügung steht und ihnen hilft, ihre Gedanken zu sortieren und Wünsche zu klären.
Wir haben viele Patienten, die noch im Berufsleben stehen und für den Lebensunterhalt ihrer Familien sorgen. Da ist das Beratungsangebot der Sozialarbeiter wichtig, die Fragen klären wie etwa: Wie finanziere ich meine Familie weiter? Was machen wir mit unserem Haus, wenn der Hauptverdiener der Familie plötzlich wegbricht? Ist es sinnvoller, mich jetzt berenten oder länger krankschreiben zu lassen? Als Ärztin kann ich darauf keine Antworten geben. Umso schöner ist es, zu wissen, dass sich andere Teammitglieder in diesen Bereichen auskennen und beraten können.
Wie ist dieses multiprofessionelle Team zusammengesetzt?
Dr. Merwe Carstens: Die Zusammensetzung der multiprofessionellen Teams ist auf Palliativstationen nicht immer einheitlich. Fester Bestandteil sind speziell geschulte Kollegen aus der Medizin, der Pflege, dem sozialen Dienst, der physikalischen Therapie, der Psychologie und der Seelsorge. Bei uns in Lübeck ergänzen eine Kunsttherapeutin, eine Ernährungsberaterin und eine Masseurin das Team. Auch ehrenamtliche Kollegen des ambulanten Hospizdienstes gehören dazu. Auf anderen Palliativstationen werden zum Beispiel zusätzlich Musik- oder tiergestützte Therapien angeboten. Daneben haben wir im Haus ein Palliativkonsilteam, das sich um Patientinnen auf anderen Stationen kümmert.
Wie wird Patienten auf der Palliativstation konkret geholfen?
Dr. Merwe Carstens: Das lässt sich am besten an einem Beispiel erklären. Eine junge Frau war beim Sport plötzlich mit Lähmungserscheinungen in den Beinen zusammengebrochen. Ursächlich zeigten sich in der weiteren Diagnostik nach Aufnahme in das Krankenhaus Knochenmetastasen und Metastasen, die das Rückenmark bedrängten, bei einer bis dahin noch nicht bekannten Brustkrebserkrankung. Nach einer Operation war die Patientin immobil, hatte wahnsinnige Schmerzen und das Problem, dass sie drei Kinder zu versorgen hatte. Ihr Mann war voll berufstätig und auch sie sorgte finanziell mit für die Familie.
Auf der Palliativstation konnten wir uns im multiprofessionellen Team um die Patientin und ihre Familie kümmern und gemeinsam Lösungen für viele Probleme finden: In den sechs Wochen ihres Aufenthalts bei uns verbesserten wir erst einmal ihre Schmerzen, führten die Chemo- und Strahlentherapie durch, unterstützten bei der Lösung der finanziellen Situation und organisierten eine ambulante psychologische Begleitung für ihren Mann und die Kinder. Bei dieser Patientin war klar, dass sie nicht in den nächsten Monaten sterben würde. Aber neben der medizinischen Behandlung gab es bei der Patientin und ihrer Familie viele weitere Probleme, für die Lösungswege gefunden werden mussten. Damit wäre eine normale onkologische Station wahrscheinlich überfordert gewesen.
Welche Therapien werden auf der Palliativstation angeboten?
Dr. Merwe Carstens: Palliativmedizin schließt nicht aus, dass eine Grunderkrankung weiter behandelt wird – wenn der oder die Betroffene dies wünscht. Auch auf der Palliativstation oder bei palliativ erkrankten Personen können Operationen, Chemotherapien oder Bestrahlungen durchgeführt werden, wenn sie die Lebensqualität verbessern und die Lebenszeit verlängern.
Aber wir behandeln nicht kurativ: Unsere Patienten werden nicht gesund, sonst wären sie nicht auf der Palliativstation. Unser Ziel ist nicht die Heilung der Krankheiten, sondern die Linderung von belastenden Symptomen und durchaus auch eine Lebenszeitverlängerung bei guter Lebensqualität.
Die systemischen Therapien, die durch die Kollegen der Onkologie angeboten werden, sind in den letzten Jahren viel verträglicher geworden, sodass häufig auch palliativ erkrankten Personen in höherem Lebensalter Therapiemöglichkeiten angeboten werden können. Und auch die Prognose vieler metastasierter Erkrankungen hat sich verbessert.
Das Schlagwort lautet personalisierte Medizin: Wir behandeln nicht mehr den Darmkrebs, sondern wir behandeln Frau Schmidt mit ihrem ganz speziellen Darmkrebs. Und Frau Schmidt bekommt eine völlig andere Therapie als Herr Müller, weil ihr Tumor anders aussieht als seiner. Bei allem gilt: Der Patient entscheidet, welche Therapien er möchte oder nicht.
Inwieweit werden Angehörige oder Freunde auf der Palliativstation mit einbezogen?
Dr. Merwe Carstens: Der Patient oder die Patientin gibt vor, wen wir einbinden. Angehörige und Freunde können auf Wunsch mit auf der Station übernachten. Außerdem werden den Angehörigen und Freunden Gespräche mit Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und der Psychologin angeboten. Auch unsere Kunsttherapeutin bezieht häufig Angehörige mit ein und es entstehen schöne gemeinsame Bilder.
Es kann unglaublich anstrengend sein, als Freund oder Angehöriger mehrere Tage am Bett einer schwer erkrankten geliebten oder befreundeten Person zu sitzen – da ist eine Massage durch unsere Kollegen der physikalischen Therapie sehr wohltuend.
Auch über den Tod unserer PatientInnen hinaus halten wir Kontakt zu den Angehörigen. Einige kommen zu Nachgesprächen zu uns. Wenn es Hinweise auf eine längere Trauerphase gibt, können wir psychologische Gespräche anbieten und dann auch an unsere Kooperationspartner wie zum Beispiel die Hospizdienste weitervermitteln, die Trauerangebote für Einzelpersonen oder auch Gruppen anbieten.
Können auf der Palliativstation individuelle Wünsche erfüllt werden?
Dr. Merwe Carstens: Ja, dafür setzen sich unsere Mitarbeiter sehr ein. Zum Beispiel, wenn es um Haustiere geht, an denen unsere Patienten sehr hängen. Eigentlich sind Tiere im Krankenhaus verboten, aber auf der Palliativstation gibt es eine Ausnahmeregelung: Hunde, Katzen oder Kaninchen dürfen über einen speziellen Eingang ins Zimmer kommen. Wir hatten sogar schon eine Schlange zu Besuch.
Auch, wenn es ums Essen und Trinken geht, versuchen wir, Wünsche zu erfüllen: Lieblingsspeisen können nicht immer hier gekocht, aber jederzeit mitgebracht werden. Und natürlich dürfen Patienten bei uns Prosecco trinken. Wenn sich eine Patientin zum Beispiel Piña colada wünscht, aber nicht mehr gut schlucken kann, dann werden aus dem Getränk Eiswürfel gemacht und in der Mundpflege eingesetzt, so dass die Patientin das Geschmackserlebnis hat. Die Möglichkeiten sind da unbegrenzt und die Ideenvielfalt groß.
Wie geht es nach der Palliativstation weiter?
Dr. Merwe Carstens: Die meisten unserer Patienten kehren nach einem Aufenthalt auf unser Palliativstation in die häusliche Umgebung zurück. Für einige ist dies schon vorher ein Seniorenheim gewesen, einige ziehen neu in ein Seniorenheim ein. Bei fast der Hälfte der Patienten, die wir entlassen, erfolgt im ambulanten Bereich dann eine weitere palliativmedizinische Betreuung durch ein spezialisiertes ambulantes Palliativteam, welches die hausärztlichen Kollegen und die Pflegedienste zusätzlich unterstützt. Knapp zehn Prozent der Patienten ziehen in ein stationäres Hospiz um, einige werden zur Rehabilitation in ein anderes Krankenhaus verlegt.
Was ist dran an dem Vorurteil, die Palliativstation sei eine Sterbestation?
Dr. Merwe Carstens: Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass man die Palliativstation nicht als „Sterbestation“ definiert und auch nicht mit einem Hospiz verwechselt. Ich hoffe, dass die Menschen die Angst verlieren, sich der Palliativmedizin zuzuwenden, weil es nicht heißt, dass man dann aufgegeben ist. Auf der Palliativstation wird nicht nur noch Händchen gehalten, wir alle arbeiten in unseren Professionen auf einem hohen Niveau. Es ist durch Studien belegt, dass sich die Lebenserwartung von Patienten deutlich verbessert, wenn sie schon im frühen Stadium ihrer Krebserkrankung zusätzlich palliativ behandelt werden.
Bei uns auf der Palliativstation versterben auch Patienten, prozentual aber nicht mehr als auf anderen zum Beispiel internistischen Stationen. Dennoch ist in den Köpfen vieler Betroffenen, wenn sie auf die Palliativstation verlegt werden: „Oh je, Palliativstation, dann habe ich ja jetzt nicht mehr lange.“ Das stimmt einfach nicht.
Warum haben Sie sich ausgerechnet für die Palliativmedizin entschieden?
Dr. Merwe Carstens: Ich bin eine Kümmerin, mir geht es gut, wenn ich mich um andere Menschen kümmern kann. Und ich arbeite sehr gerne im Team. Diese Teamarbeit auf Augenhöhe unabhängig von Professionen und Hierarchien habe ich in meiner Laufbahn nirgends so intensiv erlebt wie in der Palliativmedizin.
Und weil wir mit vielen verschiedenen Erkrankungen zu tun haben, brauchen wir zudem Unterstützung aus anderen Fachbereichen und ein gutes Netzwerk. Ich schätze es sehr, immer wieder andere Eindrücke und Meinungen von innen und außen zu bekommen. Das Team ist außerdem eine große Stütze: Wir unternehmen auch in der Freizeit viel zusammen und können über belastende Situationen reden. Das hilft. Und es ist ein gutes Gefühl, wenn es Menschen besser geht, weil sich jeder aus dem Team mit seiner Qualifikation eingebracht hat und aus den einzelnen Unterstützungen dann ein großes haltendes Netz wird.
Sie haben viel mit Tod und schweren Schicksalsschlägen zu tun. Wie halten Sie das aus?
Dr. Merwe Carstens: Auf der Intensivstation oder im Rettungsdienst habe ich das Sterben oder schwere Schicksalsschläge als viel schlimmer empfunden. Denn ich fühlte mich hilfloser ohne die Unterstützung, die auch die anderen Professionen mit einbringen. In der Palliativmedizin können wir den Patienten sehr viele Angebote machen und sehen, dass ihnen geholfen wird. Das ist auch für uns als Team sehr entlastend. Manchmal gibt es grausame Schicksale und furchtbare Situationen, in denen es mich viel Kraft kostet, einfach dazubleiben. Das Gefühl, am liebsten weglaufen zu wollen, kenne auch ich.
Zwei Zeilen von Astrid Lindgren sind unser Spruch auf der Palliativstation, an den ich in solchen Situationen denke: „Lange saßen sie da und hatten es schwer. Aber sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost.“
Glücklich macht mich, wenn sich Patienten mir zuwenden, meine Hand nehmen und sich bedanken, weil sie sich gut aufgehoben fühlen. Ein Patient hat mal zu mir gesagt: „Mensch, Frau Doktor, mit Ihnen macht sogar sterben Spaß!“ Wenn man diese schwierigen Situationen zusammen aushält und auch zusammen lachen kann, ist das schön.
Vielen Dank für das Interview.
Weiterführende Informationen zum Thema bietet der Wegweiser der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Hier finden Sie aktuelle Adressen und über 3.200 bundesweite palliative Angebote und Einrichtungen für Kinder und Erwachsene.