Fragen an Anna Vetter, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Traumatherapie, und Ralph Kortewille, Leiter der Traumaambulanz der Regio Kliniken.
Die Folge von belastenden Erlebnissen können schwere psychische Erkrankungen sein. Inwiefern ist gerade die schutzbedürftigste Gruppe der Kinder und Jugendlichen anderen traumatischen Stresssituationen ausgesetzt als Erwachsene?
Ralph Kortewille: Man kann sich das so vorstellen: Das Kennzeichen einer traumatisierenden Situation ist das schutzlose Ausgeliefertsein und das Erleben von Lebensbedrohung und totaler Ohnmacht. Während Erwachsene sich vielen Situationen entziehen können, weil sie groß und unabhängig sind, wird ein Kind viel schneller zum ohnmächtigen Zeugen und Betroffenen. Wenn es zum Beispiel Konflikte zwischen Eltern gibt, kann das Kind weder fliehen noch wirklich eingreifen. Oder wenn es von den Eltern vernachlässigt und schlechter behandelt wird als das Haustier, kann es diese Missstände selber nicht verändern. Das Kind kennt es nicht anders und fügt sich in sein Schicksal – auch wenn es dabei psychisch und physisch verletzt wird. Es ist existentiell abhängig von seiner primären Bindungsperson und kann sich nicht selbst versorgen, weshalb Kinder trotz massiver Verletzungen diese Bindung in der Regel nicht in Frage stellen. In diesem Dilemma steht es ständig unter physiologischem Maximalstress, was die Kindesentwicklung nachhaltig schädigt.
Anna Vetter: Das ist in erster Linie ein psycho-physiologischer Prozess bei dem es nachweislich zu einer dauerhaften Stressreaktion kommt. Dabei werden vermehrt verschiedene Neurotransmitter, unter anderem Cortisol, ausgeschüttet und der Cortex ist phasenweise nicht mehr handlungsfähig. Der Cortex ist der Hirnteil, in dem die zentralen Leistungen des logischen Denkens verortet sind und der für Kontrolle und bewusste Entscheidungen sorgt. Der Körper befindet sich in einer Art Daueralarm und kann nur noch im Notfallmodus reagieren: mit Angriff, Flucht oder Erstarren.
Bergen komplexe traumatische Erlebnisse ein Risiko für Folgeerkrankungen oder gar Entwicklungsstörungen?
Anna Vetter: Es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Traumatisierung und psychischen sowie körperlichen Folgeerkrankungen. Das gilt in der Forschung inzwischen als gesichert. Stellen Sie sich ein Kind vor, das zwischen dem Kot von Katzen und ohne richtige Versorgung in seinen ersten Lebensmonaten um sein Überleben kämpfen musste. Stellen Sie sich vor, dieses Kind sitzt nun mit sechs Jahren in der ersten Klasse und die Lehrerin verlangt von ihm, es solle nun schön schreiben oder rechnen. Wenn die Welt des Kindes so früh durcheinander gekommen ist, weil Erwachsene nicht als liebevoll und versorgend erlebt worden sind, liegt es auf der Hand, dass es für das Kind schwierig ist, sich brav für diese Aufgaben anzustrengen. Außerdem passieren im traumatisierten Gehirn Prozesse, die es einem Kind sehr schwer bis unmöglich machen, sich selbst zu beruhigen und zielgerichtet auf Lernprozesse einzustellen, weil es selber entsprechende Beruhigung und Schutz nicht im ausreichenden Maße erlebt hat.
Ralph Kortewille: Wir wissen, dass es, ohne eine auf das Trauma als zentrale Ursache der Problematik fokussierte Behandlung, regelmäßig zur Ausbildung zusätzlicher Erkrankungen kommt. Während als erste Symptomatik nach einem beängstigenden Ereignis anfangs möglicherweise eine erhöhte Ängstlichkeit und Unsicherheit steht, wächst diese – nach dem Prinzip vom Schneeball zur Lawine – schnell an, wenn zum Beispiel wegen der Angst die Schule nicht besucht werden kann, von allen Seiten dafür Druck kommt oder ähnliches. Dann kommen als sekundäre Symptomatik oftmals Depressionen, selbstschädigendes Verhalten oder sogar Suizidalität hinzu. Es bedarf einer traumasensiblen Anamnese, um herauszuarbeiten, inwiefern diese Symptomatiken mit dem ursprünglichen Erlebnis zusammenhängen und wie man am besten aus diesem Teufelskreis wieder hinauskommen kann.