Fragen an Anna Vetter, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Traumatherapie, und Ralph Kortewille, Leiter der Traumaambulanz der Regio Kliniken.
Nicht nur Erwachsene können im Laufe ihres Lebens mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert sein – es gibt Vorfälle, die passieren bereits im Kindesalter. Was genau kennzeichnet traumatische Erlebnisse bei Kindern und Jugendlichen und welche Ursachen liegen diesen zugrunde?
Ralph Kortewille: Laut Studien werden circa 81 Prozent der Männer und 74 Prozent der Frauen im Laufe ihres Lebens mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert. Bei Kindern sind es zwischen 17 und 30 Prozent, die mindestens ein schweres Belastungserlebnis hatten und somit als traumatisiert einzuschätzen sind. Dabei geht es bei vielen Kindern nicht um das eine schreckliche Erlebnis. Das gibt es auch; häufiger ist aber, dass Kinder wiederholten negativen Erfahrungen ausgesetzt sind, zum Beispiel durch massive entwertende Äußerungen von Bezugspersonen, emotionale Vernachlässigung oder dadurch, dass Mutter oder Vater beispielsweise psychisch krank oder suchterkrankt sind, eine verlässliche Versorgung und einfühlsame Bindungspersonen fehlen. Auch wissen wir, dass die Zeugenschaft von häuslicher Gewalt zwischen den Eltern und natürlich sexualisierte Gewalt an Kindern zu massiver Traumatisierung führen kann.
Anna Vetter: Lange gab es dafür keine passende Diagnose. Früher war man der Auffassung, dass Kinder viele Dinge gar nicht mitbekommen würden und man nur von einer Traumatisierung bei direkter körperlicher Verletzung sprechen könne. Dies ist eindeutig widerlegt. Wir wissen heute, dass Kinder selbst schon vorgeburtlich Stress miterleben und sich dadurch Muster von Belastungsreaktionen auf die Struktur und den Stoffwechsel des Gehirns auswirken und nachweisen lassen. In diesen Fällen sprechen wir bei Kindern von einer Entwicklungstraumafolgestörung oder einer komplexen Traumafolgestörung.
Wie zeigen sich komplexe Traumafolgestörungen und wie ist der Verlauf der psychischen Erkrankung?
Anna Vetter: Eine Traumatisierung zeigt sich bei Kindern anders als bei Erwachsenen. Je jünger das Kind ist, desto schwieriger ist es, eine Traumatisierung richtig einzuschätzen. Die gängigen Diagnosekriterien sind an den Anzeichen orientiert, die bei Erwachsenen beobachtet werden: Erwachsene leiden oftmals unter plötzlich einschießenden traumatischen Erinnerungen, sogenannten Flashbacks. Kinder zeigen schwere Belastung aber zum Beispiel durch Unruhe, Konzentrations- oder Schlafstörungen oder Stimmungsschwankungen und drücken die belastenden Erinnerungen oft in Form von Albträumen oder im Spiel aus. Sie reinszenieren im Spiel, malen oder träumen immer wieder aggressive Inhalte und finden nicht selbst aus dieser Schleife heraus. Manche Kinder schalten auch ganz ab und werden emotional unerreichbar. Oftmals reagieren solche Kinder auch unangemessen heftig und aggressiv, weil sie viele Situationen, ohne dass es ihnen selbst klar ist, mit schwierigen Erinnerungen verbinden. Sie werden aufsässig, hören scheinbar nicht auf Eltern oder Erzieher, wirken hibbelig, zeigen massive Lernprobleme oder Probleme mit Beziehungen, weil sie innerlich voller Misstrauen sind und immer die Kontrolle behalten wollen. Das wird leicht verwechselt mit Ungehorsam oder anderen Störungen wie zum Beispiel ADHS. Dadurch nehmen die Probleme – wenn sie im Kern unbehandelt bleiben – im Verlauf dann oftmals zu, gerade wenn versucht wird, das Verhalten allein durch pädagogische Maßnahmen zu beeinflussen.