...Hilfesuchende beschreiben auch, dass es zu Einschränkungen in ihrem täglichen Funktionieren gekommen ist. Der Frage, was da nicht richtig funktioniert, wollen wir uns heute widmen.
Schmerz ist laut WHO-Definition eine unangenehme Körperwahrnehmung, die mit aktueller oder drohender Gewebeschädigung einhergeht oder mit solchen Begriffen beschrieben wird. Ein Schmerz kann sich reißend, brennend oder stechend anfühlen, ohne dass tatsächlich Gewebe gerissen, verbrannt oder durchstochen ist. Aufgrund der Schmerzen kann die körperliche Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein, sei es im Arbeitsalltag, in der Freizeit, bei sozialen Aktivitäten. Und oft führen Störungen einer oder mehrerer Körperfunktionen umgekehrt zu störenden Körpersignalen, zum Beispiel Schmerz. Außerdem können Funktionsstörungen auch lange schmerzlos und unbemerkt vorliegen. Einige Menschen erleben zum Beispiel wiederkehrend oder dauerhaft Einschränkungen, wenn sie ihren Kopf drehen, nach oben schauen, die Hand bewegen oder das Bein anheben wollen. Selbst kleine Probleme beim Heben des Fußes können große Auswirkungen haben, da diese Person im Alltag immer wieder stolpert, stürzt oder kleine Hindernisse nicht überwinden kann.
Welche Funktionen des Bewegungssystems sind bei Ihnen eingeschränkt und spüren Sie dabei auch Schmerz?
Kopfbewegung:
- Kopfdrehung, eventuell verbunden mit Schwindel, über Kopf schauen, Schulterblick, lange PC-Arbeit oder Lesen, Nicken und anderes
Kieferbewegung:
- Kauen, Beißen, Schlucken, Mundöffnung, Sprechen, Singen, Kloßgefühl und anderes
Armbewegung:
- Hand zum Mund führen, Körperhygiene, Gegenstände halten oder tragen, feine Gegenstände greifen, Kleidung an- oder ausziehen, Haare kämmen und andere Tätigkeiten der Körperhygiene, spezifische Bewegungen im Sport
Rumpfbewegung:
- Bücken, Wiederaufrichten, langes Stehen, langes Sitzen, plötzliche Rumpfdrehungen, Umdrehen im Bett, ins Hohlkreuz gehen, und anderes
Beinbewegung:
- Heben des Fußes, auf Zehenspitzen stellen, Treppen steigen, lange Spaziergänge oder Wanderungen, Laufen, Hinknien, Hocken und anderes
Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen berichten oft auch über Einschränkungen anderer Körperfunktionen, die in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Dies könnte Körperrhythmen betreffen, wie die Schlafqualität, Energiehaushalt, Erschöpfungssymptomatik, oder Funktionen der inneren Organe, wie Atmung, Herz-Kreislauf-Funktion oder die Verdauung. So leiden einige Schmerzpatienten unter Verstopfungen oder einem „sensiblen Magen“. Und nicht zuletzt kann das Urogenitalsystem betroffen sein, mit Kontinenzproblemen, Störungen der Sexualfunktion oder wiederholten Entzündungen im Blasen- oder Genitalbereich.
Jetzt könnte man sich ja fragen, ob Sie sich durch die Funktionseinschränkungen überhaupt beeinträchtigt fühlen? Vielleicht stört es Sie ja nicht, dass Sie bestimmt Sportarten nicht mehr ausführen können, da Sie diesen Sport sowieso immer nicht leiden konnten? Oder vielleicht sind Sie froh, gerade nicht an Ihrem Arbeitsplatz sein zu müssen, um lange am Empfangstresen zu stehen, im LKW zu sitzen oder stundenlang Regale einzuräumen? Aber vielleicht vermissen Sie Ihr Hobby, das Motorrad fahren, die Gartenarbeit oder entspannten Sex?
Es kann sein, dass Sie sich denken, mit dem Alter ist das normal und man macht ab einer bestimmten Lebensphase solche Tätigkeiten nicht mehr. Vielleicht leiden Kollegen, Bekannte oder Familienangehörige von Ihnen unter denselben Problemen, und Sie hören in Ihrem Freundeskreis ähnliche Berichte wie Ihre eigene Geschichte? Vielleicht haben Sie innerlich aufgegeben und denken sich, dass das verloren ist, vergangene Zeit und nach dem Unfall, nach der OP oder nach der Kündigung sowieso nichts mehr wird. Eventuell sehen Sie sich so eingeschränkt in Ihrem Alltag, dass Sie sich gar nicht mehr vorstellen können, irgendeine Arbeit zu machen oder irgendein Hobby mehr auszuführen oder zu verreisen.
Es kann aber auch sein, dass Sie noch mitten am Kämpfen sind und mit aller Kraft versuchen, diese eingeschränkten oder verlorenen Fähigkeiten zurück zu erobern? Dabei stoßen Sie eventuell an Grenzen, wie nicht genügend Zeit für all das Training, oder all die Behandlungen und Termine, oder Sie spüren bereits Erschöpfung, Müdigkeit oder Frust, aufgrund all des Aufwands, den Sie betreiben?
Schmerz weg, alles gut?
Ein Gedanke, der oft im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen auftaucht, ist der, dass der Schmerz erstmal wegmuss. Danach würde sich die eingeschränkte oder verlorene Funktion von allein wieder einstellen. Leider ist das allenfalls bei akuten Schmerzen der Fall. Chronische Schmerzen haben allzu oft mit anderen Ursachen zu tun und sind eng mit der Funktionsstörung verwoben. Schauen wir uns mal an, warum dies so ist.
Akute Schmerzen werden oft ausgelöst durch bedrohte oder zerstörte Struktur, wie bereits oben erwähnt. Dies kann eine verbrühte Hand, ein Riss in der Haut, ein entzündeter Pickel oder ein gebrochener Knochen sein. Dadurch werden Schmerzmelder im Gewebe aktiviert, so genannte Nociceptoren, und leiten das Störsignal in das zentrale Nervensystem, in dem dann das Warnsignal „Schmerz“ wahrgenommen wird. Bei einer Alarmanlage kann man das vergleichen mit der Aktivierung der Anlage durch einen Brand (Feueralarm) oder einen Einbruch (Haus- oder Autoalarm). Wenn man hier ein Foto macht, kann man gestörte Struktur erkennen, wie das verbrannte Steak in der Pfanne oder die eingeschlagene Scheibe. In der Medizin sind die zuständigen Ärzte bemüht, akute und dringlich behandlungsbedürftige Strukturschäden zu erkennen durch Bildgebung, wie Röntgen, Ultraschall oder MRT, oder Labordiagnostik, wie bei Entzündungen durch Infekte oder autoimmune Prozesse wie Rheuma. Oft finden sie dadurch den Grund für den akuten Schmerz, und die Behandlung kann beginnen. So können Heilungsprozesse unterstützt werden, die die gestörte Struktur wieder reparieren, zum Beispiel durch entzündungshemmende Medikamente, ein Pflaster, einen Gipsverband oder eine Operation.
Manchmal passt aber schon das Bild nicht zum Alarm, wie zum Beispiel, wenn der Bandscheibenvorfall der Körperseite liegt, die nicht wehtut. Dann passt der Alarm nicht zum Auslöser, und die Suche geht weiter, in der Hoffnung, die passende Ursache zu finden. Bei Rückenschmerzen sind über 80% nicht eindeutig auf einen passenden Auslöser zuzuordnen. Die Mediziner sprechen dann von „Nicht spezifischen Kreuzschmerzen“. Dann kann es sein, dass mehrere Ursachen zu dem Schmerzereignis führen, oder sogar ein Fehlalarm vorliegt.
Dann liegt die Störung eher im Nervensystem, in vermehrten oder fehlerhaften Störmeldungen der Schmerzmelder, einer fehlgeleiteten Schmerzverarbeitung oder in einer herabgesetzten Schmerzhemmung. In diesen Fällen führt eine Bildgebung nicht mehr zum Ziel, da es sich hier um gestörte Funktionsprozesse handelt und ein Bild der anatomischen Strukturen nicht weiterhilft. Als Beispiel wäre hier ein Foto der Festplatte des Computers, wenn Sie ein Problem mit der Software haben. Das hilft Ihnen dann auch nicht weiter.
Die „Computerspezialisten“, die sich auf Störungen der Funktion und der Schmerzverarbeitung spezialisiert haben, sind Funktionsmediziner, Manualmediziner und Schmerztherapeuten. Sie sind zu finden unter den Hausärzten oder diversen Facharztdisziplinen, meistens denen, die irgendwie mit dem Bewegungssystem zu tun haben, wie zum Beispiel Orthopäden. Diese Spezialisten können Ihnen bei Störungen in der Schmerz- und Signalverarbeitung helfen.
Wäre der Mensch ein Computer, könnte man in solchen Fällen einfach die gestörte Software neu auf die Festplatte laden, zum Beispiel über Nacht ohne eigenes aktives Zutun. Das könnte ganz praktisch sein, ist aber leider nicht möglich – denn der Mensch ist kein Computer. Eine gestörte Funktion und ein dadurch ausgelöster Fehlalarm im schmerzverarbeitenden System kann nur verlernt und tatsächlich auch abtrainiert und dadurch wieder ein ausbalanciertes Verhältnis im Bewegungssystem hergestellt werden. Dafür wird aber Ihre aktive Mitarbeit gebraucht.
Weggeparkte Tätigkeiten
Schmerz ist, wie weiter oben bereits festgestellt, ein unangenehmes Körpersignal. Eine ganz natürliche Reaktion ist es, dieses Störsignal zu vermeiden. Das führt zu dem langfristig ungünstigen Effekt, dass Schonverhalten und Vermeidungsstrategien bei chronischem Schmerz auftreten. Bei akuten Schmerzen ist dieses Verhalten sinnvoll, da hier Heilungsprozesse im Gewebe ablaufen müssen und eine Schonung dafür sorgt, dass die Wundheilung möglichst ungestört stattfinden kann. Wenn also die Hautoberfläche, ein Muskel, eine Bandscheibe oder ein Knochen verletzt ist, ist vorübergehende Schonung hilfreich. Doch Sie alle wissen, dass durch Schonung auch Gewebeabbau stattfindet. Wenn Sie daran denken, wie ein Arm oder Bein aussieht, wenn nach mehreren Wochen ein Gipsverband abgenommen wird, wissen Sie, was ich meine. Schonung führt also zu Verlust von Muskel-, Knochen- und Bindegewebe, wodurch eine bereits gestörte Funktion meist noch mehr Störung bedeutet und sich noch mehr aus dem Gleichgewicht verschiebt. Daher sind zum Beispiel Operateure heutzutage bemüht, möglichst gewebeschonend zu operieren und die Patienten so schnell wie möglich wieder in die Bewegung zu bringen.
Eine andere Bewältigungsstrategie bei andauernden Schmerzen ist eine wiederholte oder dauerhafte Überforderung. Die Patienten versuchen dann, mit noch mehr Aktivität, Sport, Ablenkung sich von dem Schmerz zu befreien, was oft jedoch nicht gelingt. Diese Menschen haben dann den Eindruck, gar nicht mehr zur Ruhe kommen zu können.
Die Mechanismen, die in ein funktionelles Ungleichgewicht führen und damit einen Fehlalarm provozieren, sind meist auch die Muster, mit denen wir das Problem zu lösen versuchen. Weitere Lösungsversuche derselben Art verstärken damit das Störsignal - mehr Schonung führt zu mehr Ungleichgewicht, mehr Fehlbelastung führt zu mehr Stress im Gewebe und damit verstärkter Aktivität der Schmerzmelder.
Was fehlt, ist das Zeichen, wann ein Umdenken und damit eine Veränderung des Verhaltens stattfinden kann bzw. muss. Bei chronischem Schmerz fehlt damit das Signal, wann der Patient das Vermeidungsverhalten aufgeben muss und wieder ein gestaffelter Belastungsaufbau stattfinden sollte. Nach einer OP weiß man das meist oder bekommt es von dem Operateur als Nachbehandlungsplan mitgeteilt.
Ein Schmerzpatient, der eine Tätigkeit, sei es ein Hobby, eine Sportart, eine Alltagsbelastung oder sogar die Arbeitstätigkeit, wegen chronischer Schmerzen pausiert hat, also weggeparkt hat, weiß oft nicht, wann er mit dieser Tätigkeit wieder beginnen kann. Es herrscht oft eine Unsicherheit bezüglich der körperlichen Belastbarkeit, da körperliche Belastung wieder zu einer Verstärkung der Beschwerden führt und damit die Belastungspause sich weiter verzögert. Da es im Gewebe keinen Heilungsprozess gibt, fehlt der konkrete Zeitpunkt, an dem die „Ampel auf grün“ schaltet und der Patient wieder unbesorgt seine Tätigkeit aufnehmen kann.
Manchmal ist unser Denken auch zugeparkt, so dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, diese eingeschränkte oder gar verlorene Tätigkeit wieder aufnehmen oder verbessern zu können. In solchen Fällen hat die betroffene Person unter Umständen ganz aufgehört, an ihrer Situation etwas zu verändern.
Was also tun, um gestörte Funktion wieder ins Gleichgewicht zu bringen und pausierte oder gar aufgegebene körperliche Aktivitäten wieder aufzunehmen?
Den Körper wieder ins Funktionieren bringen
Wenn eine gestörte Funktion wieder hergestellt werden soll, sind drei Aspekte wichtig, die beachtet werden müssen.
Erstens muss klar sein, ob die aufrechterhaltende Fehlbelastung eine Unterforderung, eine Überforderung oder eine Mischung aus beidem darstellt. Eine Mischung aus beidem könnte zum Beispiel eine einseitige körperliche Dauerbelastung auf Arbeit sein, der ein adäquater Ausgleich in der Freizeit fehlt, weil zum Beispiel dafür keine Zeit mehr ist. Für den Weg in Richtung Funktionieren muss daher die richtige Dosis gefunden werden. Besteht ein Schonverhalten, kann ein weiterer Abbau des Gewebes gestoppt oder verlangsamt werden und ein langsamer Gewebeaufbau wieder stattfinden. Kam es zu einer längeren Überforderung, stoppt die richtige Dosis eine weitere Überreizung des fehlbelasteten Gewebes und kann die aktivierten Schmerzmelder wieder beruhigen.
Zweitens ist wichtig zu erkennen, welches Funktionsprinzip besonders gestört ist. Im Bewegungssystem können die folgenden Funktionsprinzipien unterschieden werden:
- Kraft / Stabilität
- Beweglichkeit
- Ausdauer
- Schnelligkeit
- Geschicklichkeit/Koordination.
Und drittens steht man vor der Herausforderung, die richtige Reihenfolge und Mischung zu finden, in der die Funktionsprinzipien zu korrigieren sind. Als Faustregel kann man sich aber merken, dass erst die Wahrnehmung zu schulen ist, dann die Stabilität, und erst danach die Bewegung im Sinne eines Kraft- oder Ausdauertrainings.
Das deutet auf geringe Rumpf- oder Gelenkstabilität hin:
- Pausen machen müssen nach 15 – 20 Minuten
- Plötzliche Bewegungen führen zu einschießenden Schmerzen
- Fehlhaltung nach wenigen Minuten Tätigkeit
Wie kann die Rumpfkraft und Gelenkstabilität verbessert werden?
- Körperwahrnehmung schulen
- Körperhaltung bessern (z.B. Beinachse, Schultergürtel zentrieren)
- Tiefe Bauchmuskulatur ansteuern
- Atemtherapie
- Beckenbodentraining u.a.
Das deutet auf verringerte Beweglichkeit hin:
- Steifigkeitsgefühl am Morgen
- Einlaufschwierigkeiten, die sich nach wenigen Minuten bessern
- Vermeidung von Zwangshaltungen, wie Überkopfarbeiten oder tiefem Bücken
Wie kann die Beweglichkeit verbessert werden?
- Manuelle Therapie / osteopathische Verfahren
- Stretching
- Faszienübungen
- Entspannungsverfahren
- Aktive Bewegungsübungen
Das deutet auf zu Überbeweglichkeit hin:
- Häufiges Umknicken
- Überstreckbarkeit einzelner Gelenke (z.B. Knie oder Ellbogen)
- Häufige Unfälle
Möglichkeiten, eine Überbeweglichkeit zu verbessern, entsprechen der Rumpf- und Gelenkstabilisation sowie Gleichgewichtsübungen
Das deutet auf eine reduzierte Ausdauer hin:
- Erschöpfungsgefühl
- Hoher Ruhepuls
- Erhöhter Pausenbedarf
- Reduzierter Leistungsumfang
Wie kann die Ausdauer verbessert werden?
- Treppen nutzen statt Fahrstuhl und Rolltreppe
- Zu Fuß gehen statt Gefahrenwerden
- Rad statt Bus und Bahn
- Ausdauertraining in der Form, die bei Schmerz verträglich ist und nicht in einen Schmerzschub führt (s. Blog Körperliche Aktivität bei chronischem Schmerz)
Das deutet auf eine beeinträchtigte Koordination hin:
- Ausweichbewegungen
- Unsicherheitsgefühl bei der Bewegung
- Wiederholt überlastete schmerzhafte Muskeln
- Asymmetrien in der Körperhaltung
- Hinkmuster
Wie kann die Koordination verbessert werden?
- Konzentration auf Körperwahrnehmung
- Gleichgewichtsübungen auf Kissen, instabilen Unterlagen, Rollen etc.
- Verspannte Muskeln zuvor entspannen
- Feedback durch Spiegel
- Feedback durch Coach, Trainer oder Therapeuten
- Regelmäßige Wiederholung
Eine Beeinträchtigung der Schnelligkeit ist meist sekundär bedingt. Schmerz ist allein schon beeinträchtigend in der Ausführung, jedoch führen auch Defizite in Kraft und Mobilität zu einem verringerten Tempo in der Bewegungsausführung, zum Beispiel einem reduzierten Gehtempo.
Jetzt haben Sie einen guten Überblick bekommen, welche Aspekte der Bewegung beeinträchtigt sein können und wie Sie diese Funktionen wieder unterstützen können.
Wenn Sie weiterhin offene Fragen zu diesen Punkten haben, kontaktieren Sie Ihre Therapeuten oder Ärzte oder schreiben Sie uns, falls Sie an einer komplexen, multimodalen Therapie des Bewegungssystems interessiert sind.